Mediterrane Alpen – Der Sommer ist DIE Chance für die tiefe und mittlere Höhenlage

«Mediterrane Alpen» – so lautet der Name eines von sechs Entwicklungsszenarien für alpine Destinationen, welches wir am diesjährigen Tourismusforum im Montafon vorgestellt haben.

Wir vertiefen den Blick auf das Szenario und zeigen, welche Konsequenzen und Chancen dieses Szenario für Destinationen hat, die dieser Vision folgen.

Stellen Sie sich vor …

… es ist das Jahr 2050. Sie leben mit ihrer vierköpfigen Familie in einer mittelgrossen Stadt nördlich des Alpenhauptkamms. Als Sie selbst noch Kind waren, fuhren Sie mit ihren Eltern im Sommer jeweils für zwei Wochen in die Toskana. Doch diese Zeiten sind leider vorbei – im Sommer ist der Mittelmeerraum einfach zu heiss geworden. Sie entfliehen der Hitze der Stadt mit ihrer Familie am liebsten in die kühlen Alpen.

Die Vorzeichen, dass sich der Sommer in den Alpen immer mehr zur Erstferienzeit mit vielen Gästen entwickelt, stehen «dank des Klimawandels» gut. Gemäss der European Environment Agency nehmen bis 2100 die Hitzetage in allen Städten am Mittelmeer zwischen 30 und 60 Prozent zu. Auch in Deutschland, Österreich und der Schweiz werden Hitzetage häufiger (DE 10-30%, AT 20-30%, CH 20-30%) [1]. Zu Hause und im Mittelmeerraum ist es zu heiss – die Alpen locken mit der USP von idealen Temperaturen für Erholung und Sport.

Hat der Klimawandel im Sommer demnach sein Gutes, trägt die gleiche Entwicklung zur Verschlechterung der Voraussetzungen für ein betriebswirtschaftlich funktionierendes Wintergeschäft bei. In tiefen und mittleren Lagen ist mit weniger Schnee und ungünstigeren Verhältnissen für die technische Schneeproduktion zu rechnen [2]. Für Destinationen, welche davon betroffen sind, wird es schwieriger in der kürzer werdenden Wintersaison mit unsicheren Bedingungen eine ausreichende Auslastung der Infrastrukturen und Dienstleistungen (Bergbahnen, Hotels, Gastronomie, Skischulen, …) zu erreichen.

In tiefen und mittleren Höhenlagen wird die «grüne» Zeit, in welcher kein Schnee liegt, länger. Mit gezielten Angeboten soll die Aufmerksamkeit der Gäste in Richtung Frühjahr, Sommer und Herbst gelenkt werden. Die Bedürfnisse wie Sommerfrische/Hitzeflucht, Baden, Entspannen, Wellness, Kulinarik, Wandern und Biken sind mögliche Urlaubsmotive. Zur Zielgruppe gehört vorwiegend die abwandernde Mittelschicht aus den mediterranen europäischen Badeorten. Statt am Meer wird künftig in den Bergen gebadet und geplanscht – deshalb der Begriff «mediterrane Alpen».

Ein Erfolgsbeispiel aus der Praxis

Es gibt bereits heute erfolgreiche Alpendestinationen, die sich auf das Geschäft im Frühjahr, Sommer und Herbst konzentrieren. In diesen Destinationen ist der Sommer die Hauptsaison und von grösster Bedeutung für die Regionalwirtschaft. So zum Beispiel auch in Naturns im Südtirol. Der Tourismus in Naturns hat sich ab Ende der 1960er Jahre ganz ohne schneeabhängige Angebote entwickelt. Begonnen mit schlichten Bädern wurde in den meisten Hotels von Naturns das Wellness-Angebot stetig ausgebaut. Aus einst kleinen Pensionen mit wenigen Zimmern sind so über die Zeit modernste Hotels gewachsen. Ebenso entstand 1981 ein grosses öffentliches Freibad. 1993 wurde ein Erlebnisbad mit Saunen, unterschiedlichen Pools und Rutschen errichtet.

Naturns liegt auf 530 m ü. M. und ist weit entfernt von einem Skiberg. Die Gemeinde zählt bei 6’000 Einwohnern rund 3’000 Gästebetten in 130 Betrieben. Im Frühjahr, Sommer und Herbst sind die Betten zu rund 80% ausgelastet. Im Winter nur rund zu 20% (letzte 10 Jahre ohne Coronajahre). Insgesamt werden jährlich bis um die 500’000 Nächtigungen verzeichnet. Die grosse Mehrheit der Gäste stammt aus Deutschland und die durchschnittliche Aufenthaltsdauer beträgt fünf Tage [3].

Neben Erholung, Wellness und Spa wurde in Naturns gezielt in ergänzende Aktivitäten investiert, um den Aufenthalt in Naturns noch attraktiver zu gestalten und für längere Aufenthalte zu sorgen. Das vielseitige Angebot umfasst Wanderwege, Bike Trails, Klettergärten, Klettersteige, Seilparks, Fahrradstrecken, Funsportmöglichkeiten, Tennis sowie spezielle Familien- und Kinderangebote.

2019 erhielt die Gemeinde eine Konzession das in Naturns wiederentdeckte Thermalwasser zu nutzen. Zehn Hotelbetriebe haben gemeinsam die Wasserleitung finanziert (EUR 1 Mio.), die Tourismusgenossenschaft und die Gemeinde den Umbau des Erlebnisbads (EUR 0.6 Mio.) zur Erlebnistherme.

Die ersten Schritte auf dem Weg zu den «mediterranen Alpen»

Damit eine Entwicklung in Richtung «mediterranen Alpen» stattfinden kann, braucht es alle Leistungsträger. In Naturns ist die Servicekette konsequent auf die Gäste in den warmen Jahreszeiten ausgelegt. Für eine wirkungsvolle Transformation und eine Stärkung des schneeunabhängigen Geschäfts braucht es eine Gesamtstrategie, welche von allen Partnern mitgetragen wird;

In einem ersten Schritt müssen sich die Leistungsträger in der Destination für eine gemeinsame Vision, Positionierung und dazu passendes Angebot entscheiden (Masterplan). Die wirtschaftlichen Ergebnisse (Business Plan) der neuen Positionierung sollen auf jeder Stufe klar ersichtlich sein. Ziel ist, dass langfristig alle Leistungsträger betriebswirtschaftlich nachhaltig agieren und eine Entwicklungsperspektive haben.

In einem zweiten Schritt geht es darum die zentrale touristische Infrastruktur zu identifizieren und ein Investitionsplan zur (Weiter-)Entwicklung des bestehenden Angebotes zu entwerfen (Aktivitäten, Infrastruktur, Mobilität, Gastronomie, Beherbergung). Für die übergeordnete, öffentliche Infrastruktur ist die Ausarbeitung eines Finanzierungskonzeptes notwendig.

Die Transformation wird nicht von heute auf morgen erfolgen, sondern braucht Zeit und die entsprechenden finanziellen Mittel. Neben der Umsetzung von Investitionen zur Attraktivitätssteigerung des Angebotes, müssen die neuen Angebote in den richtigen Produkten verpackt und wirksam vermarktet werden.

Eine schlagkräftige Marketingorganisation auf den internationalen Märkten ist wichtig, um das Angebot und die Positionierung als Erstferienort gegenüber dem Mittelmeerraum bekannt zu machen.

Die Konsequenzen für Leistungsträger

Das verfolgen der Vision «mediterrane Alpen» hat für die Leistungsträger unterschiedliche Konsequenzen;

Bergbahnen – Die Investitionen fliessen grösstenteils in Erlebnisse in der warmen Jahreszeit. So beispielsweise in die Erschliessung neuer Aussichtspunkte, Panoramawege oder alpine Wasserwelten als Abwechslung zum Pool im Hotel. Die Bergbahn kann sich längerfristig dazu entscheiden nicht mehr benötigte Infrastruktur für den Winter rückzubauen. Die Bergbahnunternehmung ist die Erlebnisgestalterin am Berg, vielleicht auch im Tal.

Für Gäste, die im Sommer eine längere Zeit in einer Destination bleiben sollen, muss eine Vielfalt an Aktivitäten für jedes Wetter angeboten werden. Besonders wichtig für Aufenthaltsgäste, die statt ans Mittelmeer in die «mediterranen Alpen» fahren, ist der Zugang zu einem Gewässer. Dies können Pools, Bergseen, Bächen, Wasserparks und Flüsse sein. Sinnvoll ist, dass Speicherseen für die Beschneiung im Sommer genutzt, bzw. umgenutzt werden.

Beherbergung – Die Hauptsaison ist im Sommer und wird durch den Frühling und Herbst ergänzt. Um Skaleneffekte zu nutzen, werden Betriebe zu grösseren Einheiten zusammengeschlossen und ausgebaut. Damit wird die Destination interessant für internationalen Investoren und Hotelketten, welche mit ihrer Marketingpower viele Gäste anzulocken vermögen. Ein Hotel ist längst nicht mehr nur ein Ort zur Übernachtung, sondern Ausdruck eines Lebensgefühls, welches die Gäste suchen. Das Angebot im Hotel selbst ist diesbezüglich z.B. mit eigenen Wellnessangeboten für Schlechtwettertage auszubauen.

Gemeinde – Die Gemeinde hat die Aufgabe, die Veränderung des Ortes zu ermöglichen und mitzufinanzieren. Sie soll die Bedürfnisse aller Anspruchsgruppe hören und das Wachstum mitlenken sowie gegebenenfalls auf Wunsch der Mehrheit limitieren. Insbesondere sind die Anforderungen auf der gesetzlichen sowie raumplanerischen Ebene rasch zu schaffen, um Planungssicherheit für private und institutionelle Investoren sicherzustellen.

Fazit

Die steigenden Temperaturen bieten für alpine Destinationen die grosse Chance sich ein neues Geschäft mit Sommergästen des Mittelmeerraums aufzubauen.

Insbesondere für Destinationen, welche stärker unter den Folgen des Klimawandels leiden, ist das Zukunftsszenario «mediterrane Alpen» eine prüfenswerte Alternative zum rückläufigen Wintergeschäft.

Bestehende Bettenkapazitäten sollen langfristig im Sommer besser ausgelastet werden als in der kalten Jahreszeit. Dies bedingt eine strukturierte Transformation der Destination und ihrer Leistungsträger. Investitionen fliessen in den Sommer statt in den Winter und generieren eine Erlebnisvielfalt, welche auf einen Aufenthalt von zwei Wochen abzielt.

Das Angebot solcher Destinationen kann als «cool» in zweierlei Hinsicht bezeichnet werden. «Cool» im Sinne eines vielfältigen, erfrischenden Angebotes und «cool» im Sinne von kühleren und idealen Temperaturen für Erholung, Sport und Genuss.


[1] https://climate-adapt.eea.europa.eu/en/knowledge/tools/urban-adaptation

[2] https://www.tandfonline.com/doi/epdf/10.1080/09669582.2022.2112204?needAccess=true

[3] https://astat.provinz.bz.it/barometro/upload/statistikatlas/data/de/ASTAT_Gemeindeprofil_056_Naturns.pdf

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